Andere Blickrichtung
Sie glichen einer beweglichen Wolke, die sich elegant aber zügig (nicht hektisch!) über
der Landschaft auf und nieder bewegte, hin und her. Bei jedem Schwenk, den sie
gemeinsam alle zur gleichen Zeit vollzogen, blitzte die gesamte Wolke für den Bruchteil
einer Sekunde in hunderten von silbrigen Pünktchen hell auf. Die Alpenstrandläufer fliegen so
schnell, daß man die Flügelbewegungen nicht verfolgen kann. Sie sind aber auch nicht derart
schnell, wie die Libellen oder Hummeln, bei denen die Flügelbewegungen summarisch eine zu
erkennende Form ergeben.
Urplötzlich ist die Wolke verschwunden. Dann sind sie in einen Tümpel eingefallen und
rennen und picken im Schlamm mit einer Emsigkeit, die putzig ist. Mit einem Schlag erheben
sich alle wieder, wie auf ein Kommando, in die Luft als geschlossene Wolke und brillieren
erneut.
Vieles ist mir unverständlich daran. Ein Leittier, wie bei den Zugvögeln, war nicht
auszumachen, da in allem eine erstaunliche Gleichzeitigkeit herrschte. Wie ist das
Möglich, daß jeder einzelne Vogel weiß, daß gerade in dem oder jenem Moment eine Wendung
in bestimmter Richtung erfolgen muß oder soll? Keiner irrt sich je!
Die Trägheit des menschlichen Auges mag ein Hinweis dafür sein, daß das Erkennen, das
Fühlen, das Denken und Begreifen vielleicht ebenso träge abläuft, bzw. bei bestimmten
Geschwindigkeiten oder Andersartigkeiten einfach aushakt und aufgibt. Man könnte daraufhin
sicher sagen: es ist eben ein Reflex oder Instinkt bei Tieren, der das veranlaßt. Diese
allzubillige Erklärung, die nichts aussagt, kann mich nicht zufriedenstellen, sondern
eher meine innere Unruhe und Fragelust anstacheln. Eine wissenschaftliche Fragelust
ist es bei mir nicht. Die könnte zu Teilfragen und -antworten von Profanitäten
geeignet sein. Was könnte ich damit schon anfangen?
Vogelkundler und andere Naturwissenschaftler haben mir gelegentlich manches gesagt, etliches
erklärt. Das war jedesmal, sofern es ein guter Fachmann auf seinem Gebiet war, interessant. Interessant
ja; und was weiter? Ich merke, wie ich mich im Wust der Gedanken, im fragwürdigen Geflecht
der Gefühle, verheddere.
(Eckehart Ruthenberg, 1985)